VON BETHEL AUF DIE BÜHNE

„DIE NORMALEN“ VON ANNE JELENA SCHULTE

WIE GEHT ES IHNEN HEUTE? WARUM DIESE SCHEINBAR FREUNDLICHE, WOHLWOLLENDE FRAGE ZUM ALPTRAUM WERDEN KANN, HAT DIE AUTORIN ANNE JELENA SCHULTE BEI DEN RECHERCHEN ZU IHREM NEUEN STÜCK ERFAHREN. „DIE NORMALEN // IST KEIN BALSAM IN GILEAD“ UNTERSUCHT DIE DURCHLÄSSIGKEIT JENER UNDEFINIERTEN GRENZE ZWISCHEN „KRANK“ UND „NORMAL“ UND BESCHÄFTIGT SICH MIT DER INSTITUTION PSYCHIATRIE. DIE URAUFFÜHRUNG UND ZWEITE PRODUKTION DER „NEUE WEGE“- REIHE FINDET IM THEATER AM ALTEN MARKT STATT.

Mit dem Theater Bielefeld hat Anne Jelena Schulte bereits für die Produktion „Weißes Gold“ zusammengearbeitet. „Ich recherchiere gerne mit und zu Gruppen, die in der Gesellschaft nicht so präsent sind“, so die Autorin. Damals ging es um die Situation von Erntehelferinnen im Baumwoll-Anbau. „Das hatte zwar auch einen Bezug zu Bielefeld mit seiner Textilindustrie, aber dieses Mal haben wir nach Themen gesucht, die sich noch stärker mit der Stadt verknüpfen lassen. So kamen wir auf Bethel und haben uns schließlich auf psychische Erkrankungen fokussiert.“ „Unsere erste Idee war, Angehörige in den Fokus nehmen“, erzählt die Autorin. „Menschen, die Scharniere zwischen der ‚normalen‘ Stadtgesellschaft und den Bewohnerinnen in Bethel sind. Aber wir haben schnell gemerkt, dass das gar nicht so klar zu trennen ist.“ Und so dreht sich auch der Theaterabend um die Frage, wo eigentlich der Grenzbereich zwischen Psychose und Spiritualität, zwischen krankhafter Selbstzerstörung und gesunder Rebellion gegen krankmachende Strukturen liegt. Und wo verläuft die Grenze zwischen Individuum und Familie, zwischen Ärztinnen und Patientinnen, zwischen Schutz und Tabuisierung, zwischen Ruhigstellung und Heilung? Wo beginnt die Klinik und wo hört sie auf?

Was ist Realität?

„Außerdem bekamen wir die Reaktion: ‚Warum sprecht ihr über uns und nicht mit uns?‘“, so Anne Jelena Schulte. Zwar war es, auch durch Corona, nicht möglich, mit akut Betroffenen zu reden, wohl aber mit ehemaligen Patientinnen. Besonders über sogenannte Genesungshelferinnen war der Kontakt leicht. „Das sind Menschen, die früher selbst Psychiatrie-Betroffene waren. Sie waren sehr gesprächsbereit und kennen beide Perspektiven – als Patientin und als Mitarbeitende.“ Ihr eigenes Bild von psychischen Erkrankungen hat sich während der Recherchen gewandelt. „Manche Krankheiten wie Schizophrenie haben mir vorher Angst gemacht. Ich habe viel dazugelernt und mein Blick hat sich geändert. So habe ich mir etwa die Frage gestellt: ‚Was ist Realität?‘ Bei Psychosen werden zum Beispiel Sinneseindrücke nicht mehr so gefiltert, wie wir es kennen. Da kann ein weit entferntes Geräusch plötzlich sehr Angst einflößend sein, als Detonation wahrgenommen werden. Wenn den Patientinnen dann ihre Realität abgesprochen wird, ist das für sie bedrohlich.“ Besonders bewegt hat die Autorin die Geschichte einer Epileptikerin, die seit frühester Jugend in Heimen und der Psychiatrie gelebt hat. „Sie ist immer wieder angeschaut und gefragt worden: ‚Wie geht es Ihnen heute?‘ Dahinter verbirgt sich eine permanente Bewertung, ein Protokollführen. Das verstärkt das Gefühl: Mit mir stimmt etwas nicht. So wurde das für sie zur Alptraumfrage.“


Unterwegs im Graubereich

Aus ihren Recherchen hat Anne Jelena Schulte einen vielstimmigen Text entwickelt, der auf Rollenzuschreibungen verzichtet. „Das ist kein Stück, das einzelne Krankheitsbilder behandelt. Regisseur Peter Kastenmüller und ich haben uns früh darauf geeinigt, in die poetische Überhöhung zu gehen. Es gibt keine eindeutigen Antworten und Analysen, sondern viele Graubereiche. Damit möchten wir auf künstlerischer Ebene umgehen.“ Dafür haben sie die Geschichten, Erzählungen und Erlebnisse rausgesucht und weiterentwickelt, die sie am meisten interessiert und berührt haben. „Wir haben Charaktere geschaffen, die nicht realistisch sind, sondern symbolhafte Figuren. Wir wollten ein Gegenbild zur Sprache der Wissenschaft schaffen, die auf vieles ja auch noch gar keine Antworten hat. Wir treiben das Nervige, Irrationale auf der Bühne ins Extrem. Das ist eine Kraft, die einfach da ist. Das kann komisch sein, aber auch traurig.“

Jenseits der Bühne würde sich Anne Jelena Schulte einen anderen Umgang mit dem Thema wünschen. „Wenn man darüber spricht, erfährt man, dass viele Menschen Betroffene in ihrem Umfeld haben. Trotzdem werden psychische Erkrankungen verdrängt und versteckt. Über manche Erkrankungen wie Depressionen wird inzwischen offener gesprochen, aber andere wie Psychosen sind immer noch tabuisiert. Ich finde, da fehlt eine gesellschaftliche Debatte.“
Die Premiere der Uraufführung war am 4.9.21, weitere Termine im Theater am Alten Markt unter www.theater-bielefeld.de

Anne Jelena Schulte…

wurde in Berlin geboren, wo sie an der Universität der Künste Szenisches Schreiben studierte. Ihre Stücke wurden u. a. am Deutschen Theater Berlin, am Maxim Gorki Theater Berlin, am Deutschen Theater Göttingen, am Theater Bielefeld („Weißes Gold“, Spielzeit 2017/18) sowie am Theaterhaus Jena aufgeführt. Ihre Theatertexte entstehen oft auf der Grundlage von Recherchen und Gesprächen. Ihre Stücke werden beim Suhrkamp Theater Verlag verlegt.

Foto: Max Zerrahn

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