OFFEN UND ÖFFNEN
THEATERWERKSTATT BETHEL
In eine andere Rolle schlüpfen, Grenzen ausloten, mit wildfremden Menschen unterschiedlichster Herkunft bei der künstlerischen Arbeit zu einem Team werden – das sind Erfahrungen, die bereichern. Die Theaterwerkstatt Bethel bietet dafür den Raum. Ganz physisch mit einer eigenen Spielstätte, aber auch im übertragenen Sinne.

„Raus aus der eigenen Bubble.“ So nennt es Matthias Gräßlin. Und das ist eigentlich ganz einfach. „Wir überlegen uns ein Thema und dann kommen die Menschen zu uns, die sich davon angesprochen fühlen und sich künstlerisch ausprobieren möchten.“ Und dabei Erfahrungen machen, die Horizonte erweitern. „Im Spiel kann man sich nicht verstecken, denn man kommt selbst darin vor“, weiß der Leiter der Einrichtung, der auch als Regisseur, Performer, Choreograf und vieles mehr tätig ist. „Man begegnet Menschen mit extremen Lebenserfahrungen, zum Beispiel Wohnungslosen, die Diskriminierung und Gewalt erfahren haben. Ein Teilnehmer sagte mal, dass dieser Probentag sein Leben verändert habe.“ Bereits als Schüler hat Matthias Gräßlin den offenen Ansatz der 1983 gegründeten Theaterwerkstatt Bethel kennen- und schätzen gelernt.
„Die damalige Leiterin hat einfach alle, die sich für Theater interessierten, zum Mitmachen eingeladen“, erinnert sich der heutige Leiter. Die Zusammensetzung bei einem bestimmten Projekt hat sich ganz natürlich und von allein ergeben. „Das ist Inklusion im ursprünglichen Sinne“, erklärt der Theatermacher und Diplom-Sozialpädagoge, der zugleich als Dozent an der Hochschule Bielefeld und der Fachhochschule der Diakonie tätig ist. „Der Begriff stammt aus der US-amerikanischen Soziologie und schließt alle ein. Hier bei uns in Mitteleuropa hat man immer gleich eine Zielgruppe vor Augen und grenzt damit andere aus.“

Das versteht das Team der Theaterwerkstatt Bethel anders und setzt auf den Ansatz des Volxtheaters und der Volxkultur. Dafür steht das x im Namen und Logo. Zwei Linien kreuzen sich, treffen aufeinander und verbinden zugleich – ein Zeichen für Schnittstellen, Begegnung und Vernetzung. In der Praxis steht es sinnbildlich für das Aufeinandertreffen verschiedener biografischer Bezüge, Herkünfte, Absichten und Interessen. Es markiert offene Räume, in denen Entwicklung möglich wird. Egal ob bei Proben, Aufführungen, Werkstätten, Seminaren oder Tagungen.Durch verschiedene Formate erfahren Menschen unterschiedlicher Altersgruppen aktive Teilhabe und Teilgabe, d. h. sie geben oder erhalten Einblicke in das Leben von Menschen, die eine andere Herkunft, Biografie etc. haben. So richtet sich beispielsweise das Jugendvolxtheater an Menschen von 12 bis 27 Jahren, während bei der Volxakademie Raum für gesellschaftliche Diskurse gegeben wird. „Momentan arbeiten wir an der Umsetzung eines Kapitels des Kulturentwicklungsplans der Stadt Bielefeld. Es geht um einen Leitfaden für die Entwicklung kultureller Vielfalt und und wie sie sich gestalten lässt“, berichtet Matthias Gräßlin.
Inszenierungen und Workshops für Schulen, Kultureinrichtungen in der Region und natürlich für Einrichtungen in Bethel selbst stehen bei der Theaterwerkstatt auf dem Programm. Ein wichtiger Aspekt der Arbeit in Bethel sind künstlerische Kommunikationshilfen für Menschen mit komplexen Behinderungen und in anderen schwierigen Lebenslagen. Künstlerinnen und Künstler unterstützen Menschen dabei, ihre eigene künstlerische Ausdrucksform zu finden, wenn sie aufgrund einer kognitiven Einschränkung oder persönlichen Krise nicht sprechen können. Auf eine Anfrage aus Niedersachsen hin wurde ein Wohnungslosen-Theater gegründet und begleitet.
„Die Pandemie war ein Härtetest für Inklusion“, stellt Matthias Gräßlin fest. „Alle autarken Menschen konnten sich um sich selbst kümmern, doch besonders vulnerable waren die ersten, die wieder zu den Proben gekommen sind, weil sie keine Möglichkeit hatten, über Nachbarschaft oder telefonisch soziale Kontakte herzustellen. Es hat sehr lange gedauert, bis wieder große und verschiedentlich zusammengesetzte Gruppen zusammenkamen. Endlich, denn für die kulturelle Vielfalt ist Inklusion – also die Möglichkeit zur Teilhabe aller – essenziell.“
www.theaterwerkstatt-bethel.de
Text: Eike Birck
Fotos: Matthias Gräßlin