BEZAUBERNDE SAISON

DIE SPIELZEIT 2022/23

„WIR ARBEITEN FÜR SIE AN DER WIEDERVERZAUBERUNG DER WELT.“ MIT DIESEM ZIEL STARTET DAS THEATER BIELEFELD IN DIE NEUE SPIELZEIT. „ANGESICHTS SCHWIERIGER ZEITEN HABEN WIR ÜBERLEGT, OB DAS MOTTO ÜBERHAUPT SINN ERGIBT“, SAGT MICHAEL HEICKS, „ABER DANN HABEN WIR BESCHLOSSEN, DASS ES FÜR UNS SO ETWAS WIE EIN ARBEITSAUFTRAG IST.“

Mit unserer Kunst wollen wir ein Stückchen Zauber in die Welt setzen“, so der Intendant. „Wir entwerfen, planen, zeichnen, sägen, nähen, leimen, malern, schreiben, schrauben, bauen – kurz: arbeiten an etwas, das nicht dafür da ist, eindeutig verstanden zu werden. An einem Stück kollektiver Wiederverzauberung, die uns mit Neugier und Staunen auf die Welt blicken lässt, die Gemeinschaft und Zusammenhalt schafft und damit die Grundlage, mit Komplexität und Ambiguität umzugehen. Wir wollen Geschichten erzählen und Erfahrungen schaffen, die mit uns in Schwingung geraten, ohne dass wir es erklären können. Wir wollen die Lücke wagen. Wir wollen die Geheimnisse und Rätsel, die Fragen und Fragezeichen feiern.“
In seiner letzten Saison als alleiniger Intendant – danach leitet er das Theater gemeinsam mit Nadja Loschky – möchte Michael Heicks zudem bewusst den ganzen Kosmos an Möglichkeiten des Theaters ausloten und freut sich auf den Facettenreichtum der Spielzeit. Ein wichtiger Aspekt dabei: Gegenwärtig sein und Themen anfassen, die unter den Nägeln brennen, wie es Schauspieldirektor Dariusch Yazdkhasti auf den Punkt bringt.
Das bedeutet zugleich: nicht „nur“ auf Bewährtes zu setzen.
Gelten Oper, Musiktheater und Musical als diejenigen Theatergattungen, die am stärksten an einem fest umrissenen Kanon festhalten, geht es das Theater Bielefeld anders an und präsentiert neben Repertoire-Klassikern von der „Fledermaus“ bis zu „Eugen Onegin“ gleich zwei Uraufführungen sowie zwei deutsche Erstaufführungen. Los geht es am 4.9.22 mit der Premiere von „Berlin Alexanderplatz“ (mehr ab Seite 44). Von Jerry Herman, dem Schöpfer des Musicalklassikers „Hello, Dolly!“, stammen Musik und Songtexte zu „Dear World“ (1.10.22., deutsche Erstaufführung), das mitten ins Paris der Nachkriegszeit führt. Drei Konzernchefs erfahren, dass unter dem Café Francis Öl zu finden sei. Begierig beschließen sie, das Café zu sprengen, um das Öl zu Geld zu machen, doch sie haben nicht mit der Macht der Liebe gerechnet. Stoff genug für ein ohrwurmreiches Musical. „At your Doorstep/ Vor deiner Tür“ (29.3.23, Uraufführung) ist dagegen der Abschluss der Kammeropern-Reihe First Contact. Unter Mitwirkung junger
Autorinnen aus Bielefeld und Johannesburg entsteht ein Stück, das einen interkontinentalen Chatverlauf ins Dreidimensionale holt und die Lebenswirklichkeit zweier Jugendlicher in Mitteleuropa und Südafrika einander gegenüberstellt. Je eine Komponist*in aus Europa und Südafrika arbeiten bei der Vertonung eng zusammen.
Der Clou: Die Aufführungen werden zeitgleich in Johannesburg und Bielefeld zu erleben sein. Brandaktuell ist auch die deutsche Erstaufführung von „Anthropocene“ (15.4.23) des schottischen Komponisten Stuart MacRae. „Eine Mischung aus Ökothriller und Science-Fiction“, so Nadja Loschky.

TANZ Bielefeld wird in der kommenden Spielzeit von einem Team bestehend aus Gianni Cuccaro, Sarah Deltenre, Alban Pinet und Kerstin Tölle geleitet (mehr dazu ab Seite 100). Für die geplanten Produktionen werden Choreografinnen nach Bielefeld kommen, die während der Intendanz von Michael Heicks prägend am Theater gearbeitet haben. Zu Beginn gibt es ein Wiedersehen mit Gregor =öllig, der seine Choreografi e „Winterreise“ (22.10.22 ) mit den Bielefelder Tänzerinnen umsetzt. Für „Land im Land“ (14.1.23), die letzte Uraufführung der Projektreihe D3 – Dance Discovers Digital, ist eine der aufregendsten Künstlerinnen der deutschen Performancelandschaft zu Gast in Bielefeld: Die Kölner Choreografi n Stephanie Thiersch entwirft seit 20 Jahren interdisziplinäre Werke, die mit einer bunten Bildsprache die Grenzen zwischen Tanz, Schauspiel, Musik, Design und Architektur auf faszinierende Weise sprengen.
Das Schauspiel beginnt die Saison am 2.9.22 mit einem Kampf gegen Windmühlen und bringt mit „Don Quijote“ einen 400 Jahre alten Stoff um Wahrheit, Fantasie sowie das Ausleben derselben auf die Bühne. Die Heldinnen in „Löwenherzen“, einem Stück der georgisch-deutschen Autorin Nino Haratischwili, sind Kinder. In Verhältnisse hineingeboren, die ihnen teilweise nicht mal eine Kindheit schenken, setzen sie der Einsamkeit, der Angst, der Armut und dem Schmerz mutig ihre Visionen und Hoffnungen entgegen. Im Mittelpunkt des diesjährigen Familienstücks zur Weihnachtszeit steht eine liebenswerte Figur mit einer langen Nase: „Pinocchio“ (12.11.22). Florian Zellers Stück „Vater“ (21.1.23) – letztes Jahr unter dem Titel „The Father“ oscarprämiert verfi lmt – versetzt die Zuschauerinnen in die Perspektive eines Demenzerkrankten. Mit „Moby Dick“ (6.5.23) kommt eine „gigantische Abhandlung über das Ringen zwischen Mensch und Natur“, so Dariusch Yazdkhasti, als spartenübergreifendes Projekt auf die Bühne. Schließlich kooperiert die Sparte Spiel mit der Vermittlungssparte jungplusX und bringt Dawn Kings „Das Tribunal“ (26.5.23) zur Aufführung: In einer Klimadystopie werden zwölf Jugendliche zu Geschworenen in einem Gerichtsprozess benannt, der über Schuld oder 8nschuld ihrer Elterngeneration befi nden soll. Wie sieht die Zukunft für die verschiedenen Generationen aus?
Infos zum kompletten Programm unter www.theater-bielefeld.de

Text: Stefanie Gomoll
Foto: Josef Ruben

Perspektiven


SIE TRÄGT EIN ORANGEFARBENES KLEID AUF IHRER PERFORMATIVEN ORTSERKUNDUNG, DIE IM SKULPTURENPARK DER KUNSTHALLE BEGINNT UND AN DER LUTTER IM PARK DER MENSCHENRECHTE ENDET. MIT „LOOKING FOR A PLACE//PART2“ IST IHRE KÜNSTLERISCHE INTERVENTION IM ÖFFENTLICHEN RAUM ÜBERSCHRIEBEN.

Große Erwartungen


Die Realität des Steckrübenwinters 1919 in Berlin trifft in „Madame Dubarry“ auf das elegante Rokoko eines märchenhaft imaginierten vorrevolutionären Zeitalters. Ernst Lubitsch zeigt den Aufstieg und Fall einer jungen Hutmacherin zur Mätresse des französischen Königs und mächtigsten Frau Frankreichs. „Die Stadt ohne Juden“ von K. H. Breslauer hingegen ist ein Titel, der uns heute das Blut in den Adern gefrieren lässt. 1924 gedreht, nach fast 100 Jahren wiederentdeckt und restauriert, nimmt der Film zum ersten Mal überhaupt das Thema Antisemitismus auf und setzt es in eine satirische Dystopie von unfassbarer Hellsichtigkeit über die Hetze gegen Juden um. Anders als in der Realität wenige Jahre später geht die Filmgeschichte jedoch besser aus. Der Massenhysterie folgt die Ernüchterung. Ohne Juden wird alles schlimmer in Utopia. Weiter geht’s mit dem „Kino für Kurze“, einem amüsanten Kurzfilmprogramm für die ganze Familie, gefolgt von „The Goose Woman“.

Kulturbotschafterinnen


Die Blasinstrumente waren abgedeckt und es gab immer gleich mehrere Mikros – für den Moderator und für die Künstler. Bei den Veranstaltungen des „Burg- und Parksommers“ war vieles coronabedingt anders.

Kreative Hood


Für Konzert-Freunde und Party-Menschen hat sich zwischen Bielefelder Westen und Hauptbahnhof in den vergangenen Jahren eine höchst spannende Szene entwickelt.