Alle Jubeljahre

BIELEFELD HAT WAS ZU FEIERN

Hoch die Tassen, Sekt kaltstellen und mitfeiern! Dass sich in dieser Saison die Jubiläen häufen, zeugt von der Vielfalt und Lebendigkeit der Bielefelder Kulturszene, aber auch von ihrem Durchhaltevermögen. Wir gratulieren ganz herzlich und porträtieren einige der Geburtstagskinder.

30 Jahre AlarmTheater

GEMEINSAM UNTERWEGS

Harald Otto Schmid, Dietlind Budde, Rebecca Budde de Cancino

SUCHEN, FINDEN, ZWEIFELN, EINE ANDERE BIEGUNG NEHMEN UND WEITERSUCHEN. DASS WEGE MANCHMAL GANZ WOANDERS HINFÜHREN ALS GEDACHT, IST IM ALARMTHEATER PROGRAMM. KEIN WUNDER, DASS AUCH DIE GEPLANTE RICHTUNG DES INTERVIEWS – DREI STÜCKE AUS DREI JAHRZEHNTEN SOLLTEN DIE GESCHICHTE DES ALARMTHEATERS ILLUSTRIEREN – EINE ANDERE WENDUNG NIMMT.

Zu groß ist die Vielfalt der Produktionen, die das freie Theater mit seiner Spielstätte im Bielefelder Westen in 30 Jahren auf die Bühne und die Straße gebracht hat. „Creeps“, das erste Stücke der Jungen Bühne aus dem Jahr 2003 ist ebenso „typisch“ AlarmTheater wie „Ikarus“, eine Produktion mit ehemals drogenabhängigen jungen Männern von 2006. Die Performance „Mal gucken, ob es mich gibt?“ mit Inhaftierten aus der JVA Bielefeld-Brackwede von 2015 liegt Theater-Gründerin und -Gründer Dietlind Budde und Harald Otto Schmid ebenso am Herzen wie die Straßentheaterproduktion „Schutzschilde“ des Internationalen Jugendensembles. „Damit waren wir in São Paulo, eine ebenso herausfordernde wie herausragende Erfahrung“, unterstreicht Dietlind Budde. Aber auch „Herzrasen“ ist ihr wichtig, ein Stück mit jungen Geflüchteten und Mädchen vor Ort. „Wir haben für die Begegnung gesorgt und geguckt, was passiert“, so die Regisseurin. „Es raste in die Liebe, aber es raste auch zurück in die Fluchtgeschichte und Traumata. Das hatte eine unglaubliche Energie. Aber auch Konflikte und Provokationen gehören dazu.“ Ihre Sympathie für Hitler legten syrische Jugendliche dagegen ab, als sie in der Produktion „Kindertransporte“ in die Rolle jüdischer Kinder schlüpften und ihre eigene Fluchtgeschichte wiedererkannten. Wo Gespräche nicht weiterführen, kann Theater vieles bewegen und wird auch schon einmal zur „Lebensschule“, wie Harald Otto Schmid es nennt.

Trotz der unterschiedlichen Inhalte und Darstellenden gibt es verbindende Elemente. „Wir arbeiten viel zu assoziativen Themen oder beziehen uns auf die gesellschaftliche Situation“, so Dietlind Budde. „Und wir machen selten Autorenstücke, sondern gehen mit der Truppe gemeinsam einen Weg, von dem wir anfangs nicht wissen, wohin er führt.“ Unterwegs geschieht etwas, das Harald Otto Schmid so beschreibt: „Während der Produktionen wachsen wir zusammen. Es entstehen Beziehungsgeflechte, aus denen sich Geschichten entwickeln. Die Beziehungsarbeit bringt uns künstlerisch weiter, daraus entwickeln wir unsere Kraft.“ Dietlind Budde ergänzt: „Manche sagen, wir machen soziale Arbeit. Nein, wir machen Kunst!“ Eine Kunst, die oft aus der Krise erwächst. „Auch, wenn wir mit Leuten arbeiten, die ausgegrenzt werden, die ein ‚Defizit‘ haben, sehen wir darin Potenzial und Chance. Wir wollen eine Haltung vermitteln: Das Leben wertzuschätzen, auch wenn es gerade nicht gut läuft“, sagt Harald Otto Schmid. „Krise heißt immer auch Transformation, da entsteht etwas Neues“, so seine Überzeugung.

„Wir selbst sind durch große Krisen gegangen – vom vierjährigen Kampf um unser Haus, das abgerissen werden sollte, bis zu Corona – aber am Schluss stand immer eine Aufführung. Genau hier, im Saal, schlägt für Rebecca Budde de Cancino das Herz des Theaters. „Die Dringlichkeit kommt aus dem Saal“, unterstreicht sie. Sie selbst hat der Weg von der bildenden Kunst in den Bühnenraum geführt.

Aktuell steht das AlarmTheater vor zwei Krisen: einerseits der finanziellen Eine Antwort darauf ist die neue Strategie der „Patenschaft“ (mehr dazu auf www.alarmtheater.de/de/start/patenschaft/). Andererseits der Zukunftsfrage: Wie geht es weiter, wenn die erste Generation den Staffelstab übergibt? Sicher ist: „Wir können uns nicht vorstellen, dass jemand einfach von außen kommt und das Haus ‚managt‘“, unterstreicht Dietlind Budde. Tatsächlich hat die Transformation von innen längst begonnen. „Der Prozess und Wandel ist schon im Gang, etwa durch junge Regisseur*innen“, weiß Rebecca Budde de Cancino, die zur zweiten Generation zählt. „Loslassen, aber noch da sein, das machen Dietlind und Harald gerade“, so ihr Fazit. Und alle gemeinsam sind gespannt, was sich daraus in Zukunft entwickelt. www.alarmtheater.de

40 Jahre Kulturgruppe

Martina Strothotte, Claudia Meise,
Claudia Schewe

KEIN BISSCHEN LEISE

„Früher waren wir 50 beim Saufen und 3 beim Aufräumen“, scherzt Martina Strothotte. „Heute ist das genau andersrum.“ Klarer Fall: Die Kulturgruppe Bielefeld e.V. ist erwachsen geworden. Jung geblieben ist jedoch das Vereinsziel, Konzerte jenseits von Mainstream und Kommerz zu erschwinglichen Preisen zu veranstalten. Und noch etwas verbindet die unabhängige, komplett ehrenamtliche Veranstaltungsgruppe bis heute: jede Menge Energie und Spaß am Engagement sowie ein großes Zusammengehörigkeitsgefühl.

Dass hier nicht einfach Vereinskolleginnen sitzen, sondern Menschen, die sich auch privat schätzen, wird beim Interview sofort deutlich. Ebenso wie an legendäre Konzerte – von Fugazi über No Means No bis zu Slim Cessna’s Auto Club – erinnern sich die drei etwa an zahlreiche Umzüge der Vereinsmitglieder. Die gegenseitige Hilfe gehört zum Ehrenkodex der Gruppe. Die kann allerdings nicht nur anpacken, sondern bündelt auch weitere Kompetenzen, vom Layout über die Moderation bis zur Licht- und Tontechnik. Derart gut aufgestellt zu sein, hat der Gruppe auch beim Meistern von Krisen geholfen. So hat sie während der CoronaZeit unter anderem das „Pandemie-konforme“ Festival im Bielezelt organisiert. Am längsten mit dabei ist Claudia Schewe. Die Bielefelderin zählt zu den Gründungsmitgliedern des heute über 40-köpfigen Vereins. Sie war damals allein unter Männern. „Heute sind wir dagegen frauendominiert“, lacht Martina Strothotte, die Mitte der 90er zur Gruppe stieß. „Ich bin gerne zu den Partys der Kulturgruppe gegangen und es war ohnehin mein Freundeskreis. Irgendwann wird man ‚schanghait‘ und steht hinter der Theke.“ Ernsthaft fügt sie hinzu: „Warum ich das mache? Weil es sich gut anfühlt. Wir halten zusammen wie in einer Familie.“ Auch Claudia Meise, inzwischen seit zwei Jahren aktives Vereinsmitglied, war schon länger Teil der Szene, nur die Zeit fürs Engagement fehlte. „Neben der Liebe zur Musik, ich lege selbst auch auf, verbindet uns eine unglaubliche Freundschaft. Und die Streitkultur finde ich großartig. Manchmal wirkt es wie ein Durcheinander, aber was wir erreichen, ist Wahnsinn.“

Wie dieser „Wahnsinn“ in den 80ern begann, weiß ihre Namensschwester noch genau. Auslöser war, dass in Bielefeld etwas fehlte. „Wir waren an Punkmusik interessiert, aber es gab damals nur wenige Punkkonzerte im AJZ. Wir sind häufig zu Konzerten in anderen Städten gefahren, haben Bands auf ihrer Tour begleitet und irgendwann gedacht: Das machen wir selbst.“ In die Karten spielte den damals gerade erst 17- bis 20-jährigen Punkfans die gute Vernetzung innerhalb der Szene sowie die bis heute andauernde Freundschaft zu einigen Bands. „Wir haben sehr viele Veranstaltungen gemacht, manchmal drei pro Woche“, so Claudia Schewe. „Es war aber auch einfacher, denn wir hatten kaum Fixkosten, einen Booker mit guten Kontakten und die alte Hausbesetzerszene hat uns sehr unterstützt.“

SNFU im AJZ, 1995

Bis 1998 fanden die Konzerte im AJZ statt, das übrigens selbst ein Jubiläum feiert: 1973 wurde das Arbeiterjugendzentrum Bielefeld als eines der ersten autonomen Jugendzentren der Bundesrepublik Deutschland gegründet. Dort ging am 3.12.1983 mit den Bands Bluttat und Kanalterror das erste eigene Konzert der Kulturgruppe über die Bühne. Heute finden die meisten Veranstaltungen im Forum statt. Verändert bzw. erweitert hat sich auch das musikalische Spektrum.

Wir sind alle mit Bass, Gitarre und Schlagzeug groß geworden“, so Martina Strothotte. „Deshalb sind wir keine großen Fans von reiner Elektronik.“ Ansonsten geht (fast) alles. „Wir sind diverser geworden und laden mehr Frauenbands ein“, ergänzt Claudia Meise. „Außerdem ist es uns wichtig, die lokale Bandszene zu unterstützen.“ Nicht nur anlässlich des Jubiläums graben die Vereinsmitglieder gerade viele alte Geschichten aus; ein Musikjournalist recherchiert aktuell auch für ein Buch über die Kulturgruppe. „Dafür haben wir ganz viele Mitglieder und Bands aus 40 Jahren angeschrieben und eine Flut von Texten bekommen“, so Martina Strothotte. „Als wir den Geburtstag angekündigt haben, kamen unglaublich viele Reaktionen von Leuten aus aller Welt. Die Kulturgruppe feiert sich, aber die ganze Szene feiert mit.“ www.kulturgruppe-bielefeld.de

Termintipps:
28.9.-1.10.23, Jubiläumskonzert „40 Jahre Party“ im Forum. Mit einer Ausstellung, die einen Rückblick auf 40 Jahre Bielefelder Konzertgeschichte in Bild und Ton bietet, sowie Live-Musik, u. a. mit Dünamit, Notdurft sowie Ackerbau und Viehzucht.
24.11.23, Ruts DC & Pete Bentham and the Dinner Ladies
15.12.23, Psyche & No More

10 Jahre Z.O.F.F

OSTWESTFÄLISCHE WELTMUSIK

Zärtliche Ouvertüren für Freunde“. Auch kein schlechter Name. Ihre Bühnenshow hätte sich dann allerdings anders entwickelt. „Finnland ist zentraler Bestandteil unserer Moderation, wir machen finnische Fischmarktgymnastik oder werfen Stofffische ins Publikum“, lacht Sängerin Marion Meisenberg. „Wir identifizieren uns mittlerweile so damit, dass wir fast glauben, wir hätten schon einmal auf einem finnischen Fischmarkt gespielt.“

Hinter der Namensfindung des „Zentral Orchesters finnischer Fischmärkte“
verbirgt sich eine kuriose Geschichte. „Wir haben nach einem kurzen, griffigen Namen gesucht, der Power rüberbringt und ein bisschen frech ist“, erzählt Bandgründer Jochen Mariss. Schnell landeten sie bei „Zoff“. Doch dann meldete sich eine Band aus dem Sauerland, die bereits so hieß. Kompromiss: Z.O.F.F. durfte die Bielefelder Band heißen. Doch jetzt musste eine Erklärung für die Abkürzung her. „Bei einem Konzert in der Neuen Schmiede haben wir Zettel im Publikum verteilt und um Vorschläge gebeten“, erinnert sich Jochen Mariss schmunzelnd. Neben vielen interessanten Ideen war auch „Zentral Orchester finnischer Fischmärkte“ dabei.

Ähnlich ungewöhnlich ist die Gründungsstory der neunköpfigen Band, die 2024 ihr zehnjähriges Jubiläum feiert. „Wer hat Lust auf eine Balkanband
zwischen Herzschmerz und Tanzlaune?“ So lautete die Anzeige, die Jochen Mariss 2012 in der „Ultimo“ schaltete. „Worauf das hinauslaufen sollte, wusste ich selbst nicht so genau. Vielleicht wollte ich als gebürtiger Rheinländer der ostwestfälischen Mentalität etwas entgegensetzen.“ Dass 16 Rückmeldungen kamen, hat ihn selbst überrascht. Ihr erstes Konzert gab die Band bei den Nachtansichten 2014 in der Süsterkirche. Ein Auftritt, der Marion Meisenberg und Jochen Mariss rückblickend ein wenig peinlich ist. Doch auch, wenn sie von ihrer damaligen Leistung nicht überzeugt sind: Sie hatten so viel Spaß dabei, dass sie weitermachten.

Seitdem haben sich Z.O.F.F. kontinuierlich entwickelt und in immer mal wieder wechselnden Besetzungen eine große Fangemeinde in der lokalen Kulturszene erspielt. „Wir sind schnell von der Idee einer Balkanband weggegangen und haben versucht, ein eigenes Profil zu entwickeln“, so der Gründer, der zugleich Komponist und Saxophonist der Band ist. „Aus Brass-, Ska- und Swing-Elementen, gut gewürzt mit Reggae und Worldfolk, haben wir etwas Eigenes kreiert, was Spaß machen, zum Tanzen animieren und Lebensfreude bringen soll. Ostwestfälische Weltmusik oder Pickert-Polka – so würden wir es nennen.“

Ein vielfältiger Sound, zu dem es nicht passen würde, ausschließlich auf Deutsch oder Englisch zu singen. „Da ich nicht so viele Sprachen spreche, habe ich Fantasiesprachen erfunden, deren Klang zum Beispiel im Osten oder im Mittelmeerraum beheimatet ist“, so Marion Meisenberg. „Ich benutze meine Stimme wie ein Instrument, um Teil der Musik zu sein.“ Allerdings reiht die Sängerin nicht einfach wahllos Silben aneinander. „Ich höre mir die Gesangsmelodien an und dann entstehen Bilder und Geschichten. Text und Melodie sind verknüpft und deshalb sind die Fantasietexte auch abrufbar und ich singe sie jedes Mal gleich.“ Ihr Bandkollege ergänzt: „Die Fantasiesprache bringt eine emotionale Botschaft rüber und gehört zu unserer Eigenart.“

Eine gute Gelegenheit, sich davon zu überzeugen, ist das Bandjubiläum. „Die Neue Schmiede dürfte der Ort sein, an dem wir am häufigsten gespielt haben“, so Jochen Mariss. „Deshalb feiern wir dort auch unser Jubiläum – mit Weggefährten, Fans und Musikern aus zehn Jahren, aktuellen und alten Songs aus der Bandgeschichte.“
www.zoff.band
www.facebook.com/Zoffmusik
www.youtube.com/@zentralorchesterfinnischer4280

Termintipps:
3.9.23., 21 Uhr, Abschlussact der diesjährigen Radkultour, Hauptbühne Reichowplatz
3.5.24, Jubiläumskonzert „10 Jahre Z.O.F.F.“ in der Neuen Schmiede

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