PERSPEKTIV WECHSEL

ANDERS GEFÜHRT

OB DIGITALER PARCOURS DURCH DEN SKULPTURENPARK DER KUNSTHALLE ODER KULINARISCH DURCH DIE GESCHICHTE. OB ANGEBOTE FÜR KINDER IM NAMU ODER VERANSTALTUNGEN FÜR MENSCHEN MIT DEMENZ IM HISTORISCHEN MUSEUM: IN DER STADT GIBT ES NEBEN DEN KLASSISCHEN AUSSTELLUNGS- UND STADTFÜHRUNGEN JEDE MENGE AUSSERGEWÖHNLICHER ANGEBOTE. WIR STELLEN ZWEI BIELEFELDERINNEN VOR, DIE DAZU EINLADEN, DIE WELT MIT ANDEREN AUGEN ZU BETRACHTEN.
MAL DURCH DIE BRILLE DES HUMORS, MAL GANZ KONKRET AUS DER PERSPEKTIVE VON MENSCHEN MIT SEHBEEINTRÄCHTIGUNG UND BLINDEN.

„ICH KANN KEINE KUNST MEHR SEHEN!“

Führungen für menschen mit Sehbeeinträchtigung und Blinde

Das Selbstporträt von Timm Ulrichs, das den seinerzeit 35-jährigen Kunstprofessor mit Brille, Blindenstock, gelber Armbinde und einem Schild mit dem Schriftzug: „Ich kann keine Kunst mehr sehen!“ zeigt – fotografisch festgehalten von Ellen Poerschke – hängt im Büro von Christiane Heuwinkel, Leiterin des Kunstforums Hermann Stenner.
Was für Timm 8lrichs 197 Ausdruck seiner Kritik am Kunstmarkt und der Kommerzialisierung desselben war, ist für viele Menschen Realität: Sie können tatsächlich keine Kunst mehr sehen. Deshalb bietet das Kunstforum Hermann Stenner zu jeder neuen Ausstellung Führungen für Menschen mit Sehbeeinträchtigung und Blinde an – ein wichtiger Beitrag zur Inklusion.

Vor rund 30 Jahren bot Christiane Heuwinkel in der Kunsthalle eine erste Führung dieser Art an. Wegen einer Asbest-Sanierung war die Raumtemperatur für Gemälde nicht geeignet und die Kunsthalle zeigte als Alternative eine Skulpturen-Ausstellung. Ideal für Menschen, die sich ihre Umwelt per Tastsinn erschließen. „Ich habe damals mit dem Direktor abgesprochen, dass einige, unempfindliche Kunstwerke berührt werden dürfen“, erinnert sich die leidenschaftliche Kunstkennerin an ihre Anfänge in der Kunsthalle, wo sie über 20 Jahre lang den Bereich Bildung und Kommunikation verantwortete. Vor der ersten Führung nahm sie Kontakt zum Blindenverein auf, um sich vorzubereiten. „Der Rest war learning by doing – inklusive einiger Fettnäpfchen meinerseits“, lacht sie. „Die erste Führung war unheimlich lustig. Wir standen vor einer Venus-Skulptur von Aristide Maillol, die von einer Teilnehmerin ertastet wurde und die ganz trocken feststellte: Knick-Senk-Spreizfuß.
Damit kannte sie sich gut aus, denn sie war Physiotherapeutin.“

ANDERS BETRACHTET

Anfangs hat Christiane Heuwinkel bewusst auf Floskeln, wie „Wie man hier sieht …“ verzichtet, bis eine Blinde sagte: „Ich nehme Ihr Erzählen als Sehen wahr.“ Leichter in der Vermittlung sind expressionistische Werke oder wenn man bei bekannten Künstler innen an Seherinnerungen andocken kann. Herausfordernd ist Abstraktes. Aber auch da gibt es Lösungen. „Bei Das Schwarze 4uadrat von Kasimir Malewitsch kann man wunderbar etwas zum philosophischen Hintergrund erzählen“, berichtet die Museumsleiterin, die bei den Führungen gern einspringt, wenn mal eine Kollegin ausfällt.
„Oder das Werk wird in den kulturhistorischen Kontext eingebettet.
Wichtig ist, dass ein guter Gesamteindruck vermittelt wird. Man darf sich nicht zu lange mit der Beschreibung der kleinsten Details eines Bildes aufhalten. Das Entscheidende bei den Führungen ist für mich, dass man miteinander über Kunst ins Gespräch kommt.“
Durch den Kontakt zu Menschen mit Sehbeeinträchtigungen und Blinden hat sich auch ihre eigene Wahrnehmung verändert. „Ich habe einen gehörigen Respekt davor bekommen, wie Menschen ohne oder mit beeinträchtigtem Sehvermögen ihr Leben meistern“, sagt Christiane Heuwinkel. Neben Fachkenntnissen und präziser Beschreibung geht die engagierte Frau sehr konzentriert in ihre Führungen, um ihre Sätze möglichst gut zu formulieren und auf nervtötende Ähs und Füllwörter zu verzichten. Denn das lenkt die Teilnehmenden von dem erzählten Seheindruck ab. „Nach anderthalb Stunden bin ich mental erschöpft, aber ich empfinde die Führungen als hochspannende und schöne Sache, die ich sehr gern mache.“ Was in der Kunsthalle vor 30 Jahren seinen Anfang nahm, hat in der Region Kreise gezogen. Heute werden beispielsweise auch im Marta in Herford und im Museum Peter August Böckstiegel Führungen für Menschen mit Sehbeeinträchtigung und Blinde durchgeführt.

VON FAKTEN ZUR FIKTION

Comedy-Führungen mit Heinz Flottmann

Von der Turmspitze bis unter die Grasnarbe und quer durch die Jahrhunderte sowieso. Wenn Jürgen Rittershaus alias Heinz Flottmann zur Sparrenburg, über den Johannisfriedhof oder durch das Historische Museum führt, hat der Comedian eines immer mit dabei: seinen typisch ostwestfälischen Humor.

Wann und wie ist die Idee entstanden, Führungen und
Comedy zu verbinden?

Am Anfang war die Stadtrundfahrt, ich vermute 1999. Ich selbst bin gar nicht auf die Idee gekommen, ich hatte sogar eher Schwierigkeiten, mich damit anzufreunden, weil die Vortragssituation im Bus ganz anders als auf der Bühne ist. Man steht quasi mitten im Publikum und das, worüber man redet, zieht immer unterschiedlich schnell vorbei. Die Idee dazu kam von Gabriele Schulz, die damals für den Stückverkauf zuständig war, aber natürlich auch andere Ideen hatte. Zum Beispiel die einer etwas anderen Stadtrundfahrt. Vorbilder hatte ich keine, ich habe mir einfach Örtlichkeiten in Bielefeld ausgesucht, die meiner Meinung nach interessant waren, im Positiven wie im Negativen. Damals war z. B. das Siekerloch eine solche Station, oder eine Massagefahrt über die Detmolder Straße – vor dem Umbau. Oder der Kesselbrink als einer der gewöhnungsbedürftigsten Plätze Mitteleuropas …

Auch wenn es humorvoll zugeht, musst Du Dir Wissen, etwa über die Stadtgeschichte, aneignen. Wie recherchierst Du?

Es ist natürlich meistens gut, die tatsächlichen Fakten zu kennen, wenn man etwas überspitzt darstellt.
Die Realität ist immer ein gutes Sprungbrett in den Himmel der Fiktion. Außerdem bringen nicht alle Gäste den gleichen Humor mit, und da ist es gut, ernstgemeinte Nachfragen notfalls auch ernsthaft beantworten zu können. Anfangs habe ich mir im Stadtarchiv Informationen besorgt über geschichtliche Zusammenhänge wie Industrialisierung, Stadtgründung oder bestimmte Bauwerke. Damals las man auch noch Bücher, heute findet man das meiste ja im Netz. Wobei ich festgestellt habe, auch geschichtliche Fakten sind einem gewissen Wandel unterlegen, wie vor einiger Zeit an der Höhe des Sparrenburgturmes zu sehen war.

Geht es vorrangig um Unterhaltung oder eher um Wissensvermittlung?

Natürlich geht es mir als Humorpädagogen vorrangig um Wissensvermittlung! Und zwar möchte ich vermitteln, dass wir, wenn wir ehrlich sind, ziemlich wenig wissen. Das Wissen ist halt eine windige Angelegenheit, das meiste gerät doch recht schnell wieder in Vergessenheit.
Wo vieles ja auch gut aufgehoben ist. Aber mal im Ernst. Es geht einfach um Spaß. Der steht ganz klar im Vordergrund. Aber wenn jemand über die Veranstaltung die Stadt/Burg oder was auch immer mit anderen Augen sieht, freut mich das natürlich.

Lassen sich „dröge“ Fakten mit Humor besser an den Mann und
die Frau bringen?

Bestimmt. Die Verpackung macht ja viel aus. Nehmen wir den letzten männlichen Ravensberger Landesherrn, Bernhard. Den hat man in einer Stunde wieder vergessen. Wenn es aber heißt: „Als letzter Ravensberger bewohnte Bernhard die Sparrenburg mit einem Diener und seinem Hund. Letzterer war zufällig ein Bernhardiner. Man kann also sagen, die letzten drei Ravensberger waren zwei Bernhardiner.“ Das stimmt zwar nicht ganz, aber daran erinnert man sich vielleicht etwas länger. Darüber hinaus bemerke ich aber auch immer wieder, dass viele Dinge, die ich anfangs dröge und grau fand, durch die Beschäftigung damit interessant werden.

Zwei, drei Fakten über Bielefeld, die Dich selbst erstaunt haben?

Da gibt es einiges, z. B. dass Bielefeld auf einer Düne gebaut worden sein soll. Oder dass es hier erstaunlich viele „Hidden Champions“ gibt. Das sind keine schwer auffi ndbaren Speisepilze, sondern versteckte Weltmarktführer verschiedener Branchen. Was ich auch erstaunlich fand: Der Kesselbrink war mal Weideland und trug deshalb den Namen „Köttelbrink“. Oder Arminia wurde unter anderem aus zwei Geselligkeitsvereinen gegründet. Was man allerdings bis heute an der Spielweise merkt.

Von der Sparrenburg bis auf den Friedhof: Wie ist diese Bandbreite entstanden?

Fast immer durch Anfragen. Als ich die Anfrage zur Sennefriedhof-Führung bekam, habe ich natürlich auch erstmal in den Spiegel geguckt und überlegt, warum die gerade mich fragen. Es waren auch schon kuriose Führungen dabei: Klärwerk, Rathaus, Gebäudebrücken, das Thema Essen, Bauen, Museumsausstellungen «

Welche Art von Führungen besuchst Du selbst gerne, wenn Du zum Beispiel in einer anderen Stadt bist?

Gezielt eigentlich gar keine, aber wenn mich eine anspringt, trete ich nicht zur Seite.

Aktuelle Termine: www.heinz-flottmann.de

Text: Eike Birck, Stefanie Gomoll
Foto: deteringdesign, Michael Falkenstein

Perspektiven


SIE TRÄGT EIN ORANGEFARBENES KLEID AUF IHRER PERFORMATIVEN ORTSERKUNDUNG, DIE IM SKULPTURENPARK DER KUNSTHALLE BEGINNT UND AN DER LUTTER IM PARK DER MENSCHENRECHTE ENDET. MIT „LOOKING FOR A PLACE//PART2“ IST IHRE KÜNSTLERISCHE INTERVENTION IM ÖFFENTLICHEN RAUM ÜBERSCHRIEBEN.

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